Erinnerungen

Es ist inzwischen Ende Oktober und ich laufe mit meinem Hund Basco an unserer Lieblingsstrecke spazieren. Wie so oft, wenn ich am Neckar entlang wandere, denke ich an vergangene Angeltrips, die ich an diesem Fluss schon erlebt habe. Während meine Gedanken in vergangene Zeiten sich verlaufen und einige Erlebnisse sich wieder vor mir auftun, so bleibt ein Angeltrip besonders in meiner Erinnerung haften. Nein, nein, ihr braucht keine Angst haben, es ist nicht wieder einer der üblichen langweiligen Storys: Rute reingesnigt, 40 Pfünder raus gedreht. Aber hört selbst:

Es war ein Freitag Ende November und es war endlich mal wieder so weit. Eine Arbeitswoche bei VAS- Angelgeräte lag hinter mir und ein zwei Tagestrip an den Neckar war angesagt und wie immer war ich heiß ohne Ende. Es konnte mal wieder nicht schnell genug gehen, den ersehnten Angelplatz zu erreichen. Wie immer war auch das Auto schon fertig geladen, so dass ich sofort nach Geschäftsschluss durchstarten konnte. Zielort war der Neckar bei Laufen. Nach ca. zweieinhalb Stunden Fahrt bog ich von der Hauptstraße links ab und der Neckar wurde für mich sichtbar. Die Aufregung stieg! Würde mein gewünschter Angelplatz frei sein? Kurze Augenblicke später kam die Erleichterung, Angelplatz nicht besetzt, kein Schwein am Wasser. Welcher Idiot geht auch im November bei ca. zehn Grad und leichtem Nieselregen und kaltem Wind zum Fischen? Außer ein paar verrückten Karpfenanglern wohl niemand.

Doch mir sollte es recht sein. Das Takel war schnell montiert und ich fand mich bei diesem Wetter bald in meinem Schlafsack wieder. Die Nacht verlief wie erwartet ruhig, außer kalten Füßen und ein paar verlorenen Montagen war nichts Aufregendes passiert. Aber was erwartet man schon, wenn man, ohne vorher anzufüttern, sich einfach „auf gut Ding“, wie wir Schwaben sagen, einfach „wo no hogt.“ Trotz der widrigen Umstände war ich guter Dinge, dass ich noch den einen oder anderen Karpfen überlisten würde, weil sich die Angelstelle schon von früheren Trips als echter Hot Spot erwiesen hat. Also hoffte ich auf den kommenden Tag/ Nacht. Leider lief am Tag auch nichts mehr, außer dem Regen, der durch die Nähte meines Teitens tropfte. Am Abend schaute mein Kumpel Gerstel zu Besuch vorbei und die Freude sich wiederzusehen, war groß – so groß, dass wir gleich eine Flasche Jack Daniels köpften und, wie das unter Karpfenanglern so üblich ist, klönten wir über alles und jeden und zogen so richtig schön über unsere lieben Angelkollegen her.

Plötzlich wurde unsere heitere Diskussion durch einen lauten gellenden Schrei unterbrochen. Es hörte sich ungefähr so an:“AAAAAAAAHHH“. Dann hörte man Äste krachen und einen dumpfen Ton. Gerstel und ich schauten uns erstaunt an, und ich fragte ihn, was das wohl zu bedeuten hätte. Schließlich war es nachts um halb zwölf, starker Regen und saukalt. Gerstel meinte mit seiner unnachahmlichen trockenen Art: „Da ist einer den Steinbruch hinuntergestürzt!“ Und da es nach einer Flasche Jacky völlig normal ist, dass jemand hundert Meter hinter dir den Steinbruch runterstürzt, fanden wir das voll geil und stoßten erst mal darauf an. Und schon bald war der Schrei hinter uns völlig vergessen. Wir widmeten uns den dunklen Seiten des Karpfenangelns. Drogen, Fischneid, Kontrolleure. Nach vorgerückter Stunde wendeten wir uns den tiefsinnigeren Gesprächsthemen, wie z. B. wo welcher Fisch gefangen worden ist, ob die veröffentlichten Gewichte stimmen und welche Idioten immer am Cassien im Schongebiet angeln. Natürlich durfte das Thema Sex und Karpfenangler nicht fehlen. Wie lästerten über all diejenigen, denen ein schleimiger Muffmolch lieber war als eine süße leicht versaute Disco-Maus.

Plötzlich wurde unsere tiefsinnige Unterhaltung jäh unterbrochen. Wir wurden durch ein Geräusch direkt hinter meinem Angelplatz aufgeschreckt. War da jemand auf der Straße? Gerstel und ich verhielten uns ganz ruhig. Da das Nachtangeln nicht gerade erlaubt war, stieg die Spannung! Es wird doch kein Kontrolleur sein? Nicht bei diesem Sauwetter und Uhrzeit. Plötzlich rief jemand mit einer verzweifelten Stimme: „Hallo, hallo, ist da jemand“. Kurz entschlossen holte ich aus meinem Zelt meinen Baseballschläger und ging die zwanzig Meter durch das Unterholz zur Straße. Dort lehnte ein ca. fünfundzwanzig- jähriger Mann, blutverschmiert über meinem Auto. Ich sprach ihn an, was er dort tue und als der Mann sich langsam auf meinem Auto umdrehte, sackte er in sich zusammen und flehte mich an: „Bitte, bitte tun sie mir nichts“. Zwei Fragen hämmerten mir durch den Kopf. Wie er nur darauf kommt, dass ich ihm was antun wollte und warum der Typ ausgerechnet auf mein Auto stürzen musste. Ich lief auf ihn zu und wiederholte meine Frage, diesmal aber etwas energischer. Dann sackte der Mann, höchst- wahrscheinlich italienischer Herkunft, vor meinem Auto zusammen und schrie um Hilfe. Er robbte am Boden entlang und bettelte, ich solle ihn bitte verschonen, er hätte mir doch nichts getan und er bräuchte dringend Hilfe. Er stammelte etwas von, er wäre den Steinbruch hinunter geworfen worden und er könnte kaum mehr laufen vor Schmerzen und er bräuchte unbedingt einen Arzt.

Der junge Mann zitterte vor Angst und Schmerzen. In diesem Moment, klickte es in meiner angetrunkenen Birne, warum der Mann so eine furchtbare Angst vor mir hatte. Er sah mich mit dem Baseballschläger über der Schulter durch das Gebüsch auf ihn zukommen. Der Mann war sich sicher, dass heute sein jüngster Tag war und ich endgültig sein Erdendasein beenden wollte. Ich entledigte mich meines Baseball-schlägers und ging auf den Mann zu, der nun an der Stoßstange meines Autos kniete. Ich versuchte den heulenden und vor Schmerzen wimmernden Mann zu beruhigen. Der Italiener war nach meiner Schätzung vielleicht 25 Jahre alt und offensichtlich wirklich schwer verletzt. Im Schein meiner Taschenlampe konnte ich sein Gesicht erkennen. Es war blutverschmiert, seine Klamotten zerrissen und total verdreckt. Ich unterhielt mich mit ihm und machte den Vorschlag, einen Krankenwagen und die Polizei zu holen. Der Mann lehnte dies strikt ab. Er flehte mich förmlich an: „Bitte, bitte keine Polizei und kein Krankenwagen“. Ich sollte ihn nur zu einem nahe gelegenen Lokal im nächsten Ort bringen. Selbstverständlich hatte ich größte Bedenken vor dieser Aktion. Hatte ich doch zuvor größere Mengen Alkohol zu mir genommen. Von einer 100%igen Fahrtauglichkeit konnte nicht mehr die Rede sein. Doch ich gab meine Selbstzweifel auf und hoffte, bei einer eventuellen Verkehrskontrolle auf die Nachsicht der jeweiligen Polizisten, immerhin hatten wir hier einen echten Notfall (Handys hatten wir zu dieser Zeit noch nicht). Ich verständigte kurz meinen Kumpel Gerstel, dass er doch bitte auf mein Tackle aufpassen sollte, bis ich wieder zurück war. Als wir beide schließlich in meinem Auto saßen krümmte der Mann sich vor Schmerzen und ich fragte nochmals, ob ich ihn nicht lieber in ein Krankenhaus fahren sollte. Dies lehnte er weiterhin strikt ab. Als wir nach ca. zehn Minuten Fahrt am Zielort ankamen, ging ich in ein italienisches Lokal. Ich kam mir reichlich komisch vor in meinen versifften Angelklamotten. Schließlich war das hier ein richtig edler Schuppen. Ich ging zum Barkeeper und teilte ihm mit, dass ich einen Kollegen von ihm im Auto hätte und dem ginge es verdammt beschissen. Mein Gefühl sagte mir, dass die Jungs in dem Laden sofort Bescheid wussten, dass ihrem Freund was Schlimmes zugestoßen sein musste. Mit großer Aufregung rannten mehrere Leute zum Auto und trugen den jungen Mann, der inzwischen ohnmächtig geworden war, in das Lokal. Sie bedankten sich kurz bei mir und ich fuhr, mittlerweile stocknüchtern, an meinen Angelplatz zurück.

Dort angekommen wurde die ganze Aktion mit Gerstel noch einmal durchgekaut, was sich in dieser Nacht wohl abgespielt hatte. Wir waren uns einig, dass der Mann wirklich den Steinbruch heruntergeworfen wurde. Dass ich den Steinbruch noch nie bewusst wahrgenommen hatte, lag an einem typischen Anglersyndrom, sobald man irgendwo ein Gewässer sieht, hat man nur noch den Blick für das Angelwasser und es gehen einem tausend Fragen durch den Kopf, wie und wo fange ich hier meinen Big Fisch. Was interessieren einen da noch irgendwelche Steinbrüche hinter seinem Rücken. Trotzdem bleiben viele Fragen offen, warum konnte der Mann überleben, wenn er dreißig Meter in die Tiefe gestürzt war? Wieso wollte er in kein Krankenhaus gefahren werden? Warum sollten wir keine Polizei holen? Wir wissen es nicht. Sicherlich, Vermutungen gibt es viele. Was wir heute ziemlich genau wissen, warum der Mann überleben konnte. Wir sind uns sicher, dass das Krachen der Äste, die wir in jener Nacht hörten, von den Bäumen kam, die direkt unterhalb von dem Steinbruch standen. Die haben den Sturz so abgefangen, dass der Mann den Aufprall überleben konnte. Dass wir erst einige Zeit nach dem Sturz wieder was von dem Mann zu hören bekamen, erklärten wir uns heute damit, dass er einige Zeit bewusstlos gewesen sein musste, bevor er sich zu meinem Auto schleppte. Am nächsten Morgen inspizierte ich die sogenannte Absturzstelle und konnte mich davon überzeugen, dass der Steinbruch so abseits von einem Weg oder einer Straße lag, dass wirklich niemand nachts durch Zufall dort entlang läuft und über die Absperrung fällt. Für mich ist es heute noch ein Wunder, dass der Mann den Sturz überleben konnte. Ach ja! An jenem tristen Novembermorgen meldete sich wie aus dem Nichts mein Micron, er schrie um Hilfe und nach kurzem, aber heftigen Drill verschwand ein 16,5 Kilo Karpfen in die Maschen meines Keschers. Die Freude darüber war natürlich riesig. Nach dem Fotografieren packte ich meine sieben Sachen ins Auto. Ich ging abschließend noch einmal zu der Stelle, wo vorher meine Ruten standen, starte auf das Wasser und ich wusste, dass es für dieses Jahr mein letzter Moment am Wasser war.

Mit dem Wissen, dass der Winter bald das Land beherrscht, beschloss ich Richtung Heimat zu fahren, um im Frühjahr erneut mein Glück zu versuchen. Seit diesem Erlebnis ist mir bewusst, dass Angeln und Saufen einfach nicht zueinander passen.

All the Best.
Oliver Haselhoff